Wie

Wirkprozess Betrauern, Schmerzen aushalten

Schmerzfrei beim Zahnarzt, alle Impfungen im Impfpass auf Krankenkasse, Mindestlohn, Mindestsicherung, Alkohol, Drogen, Spielekonsole, Adipositas, Heilsversprechen der Politiker, eingepackt in der Medienblase, Grenzen zu, Identität und Wohlstand sichern. So wollen und sollen wir vor Not, Schmerzen, Leiden, Aggression, Zufälligkeiten und Notwendigkeiten des Lebens abgeschirmt werden. 

„Das Leben im Daseinskreislauf ist leidvoll: Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden; Kummer, Lamentieren, Schmerz und Verzweiflung sind Leiden. Gesellschaft mit dem Ungeliebten ist Leiden, das Gewünschte nicht zu bekommen ist Leiden.“
                 (Gautama Buddha, Erste noble Wahrheit)

Wir kommen aus dem Paradies (des allumsorgenden Mutterleibs), aus einer Einheit und werden in eine Welt der Gegensätze und Konflikte geboren, eben eine Welt die neben Liebe, Freude, Fülle, Glück auch Hass, Leid, Schmerz und Entbehrung bereit hält. Das Eine bedingt jedoch das Andere, wir können z.B. Freude nur in ihrer Fülle spüren, wenn wir auch das Leid, den Gegenpol spüren können. Und oft bringt uns das Leben an Punkte, an denen ein neues, größeres Maß an emotionaler Tiefe zu erleben und zu bewältigen ist.

Also gehören Schmerz und Leiden zur Conditio Humana dazu. Die Frage ist, wie gehe ich damit um. Früher hat es Traditionen und (Initiations-)Rituale gegeben, in denen über Schmerz- und Grenzerfahrungen Übergänge in tiefere und reifere Bewusstseinszustände gestaltet wurden. Nicht zuletzt als Gegenbewegung zur lieblosen, aggressiven und militaristischen Erziehung der Nazizeit werden Schmerz, Disziplin und Züchtigungen heute hinsichtlich ihres pädagogischen Werts gänzlich anders bewertet.

Ersatz für die angesprochenen Initiations- und Grenzerfahrungen wird über Schlägereien, Drogenerfahrungen, Bundesheer, Extremsport, Bandenrituale etc. gesucht. Das erweist sich nur sehr eingeschränkt wirksam im entwicklungspsychologisch angestrebten Sinne von Reifung und Übergang.

Eine Abstimmung der eigenen Bedürfnisse und Erwartungen auf die realistischerweise erwartbaren Möglichkeiten einer Erfüllung durch die Umwelt ist das Ziel des Reifungsprozesses. Dies erfolgt: 

  • bei infantil übersteigerter Erwartung über den Prozess der Frustration.
  • bei ängstlich reduzierten Anspruch ans Leben über den Prozess der Motivation. 

Das alles überspannende Ziel ist entwicklungspsychologisch aus einem Zustand der Abhängigkeit  (von Eltern, Umständen) in einen Zustand der Eigenverantwortung zu kommen.

Es geht darum, einen Realitätssinn zu entwickeln, zu erkennen wie die Welt funktioniert und wie die Menschen sich verhalten. Und es gilt zu akzeptieren, dass die Welt und Menschen so sind wie sie sind. Das ist der wesentliche erste Schritt, der aber leider meist schon Schmerzen verursacht. Sich damit abzufinden, dass es die heile (Märchen-)Welt der Kindheit in der Form nicht gibt, funktioniert über Frustration -> Ärger -> Trauer -> Akzeptanz. So kommt man in die Realität und erkennt, was dem eigenen Einfluss, Handeln, Gestalten, Anstrengen unterliegt und was nicht. Verbleibt eine überhöhte Ansprüchlichkeit, so wird diese immer wieder für Frust und Enttäuschung sorgen und für Gesprächsstoff in den Therapiestunden.

„You can only heal what you can feel“, ist eine therapeutische Weisheit. Ein seelisches Problem bleibt so lange unverständlich und dadurch unlösbar, wie es nicht gelingt, ein positives Gefühl der Bezogenheit dafür zu entwickeln. Wenn ich etwas verstecke, verdränge, wenn ich etwas einfach nicht sehen, wahrhaben will, indem ich saufe, Drogen nehme, in Arbeit oder Sport flüchte, geht das auf Kosten des gesamthaften Gefühle Erlebens. Man steckt in einer Situation von Leiden ist besser als Lösen weil (…bitte nach Belieben einsetzen). 

Mit Hilfe der Therapie werden einerseits neue Wege erkennbar mit seelischen Problemen in Kontakt zu treten. Andererseits werden Ressourcen entwickelt, die ermöglichen die oftmals auch leidvollen Prozesse der Verarbeitung und Auflösung gemeinsam mit dem Therapeuten durchzustehen. Sich mit Liebe und Mitgefühl dem eigenen Schmerz, der Hilflosigkeit, der Machtlosigkeit, der Einsamkeit, der Angst haltend und fürsorglich zuwenden. Es geht darum, Stress und Unangenehmes aushalten zu können. Es geht darum, den unangenehmen Gefühlen zugewandt bleiben zu können und nicht in Aggression, Empörung, Ablenkung zu flüchten. In dem Ausmaß wie ich das schaffe, entstehen als Folge Akzeptanz, Verarbeitung und Auflösung. Und in weiterer Folge werden neue Lebenslust, Kraft, Leichtigkeit spürbar und neue Wege erschließen sich.

Und es sind in der Regel unsere Wunden und Fehler, die uns mehr bestimmen als das Heile und Schöne. Die eine persönliche Kränkung, die eine individuelle Unzulänglichkeit, die eine spezielle Herausforderung werden zu einer den Lebenslauf bestimmenden Dynamik und Stärke. In der Biografie von, ich möchte sagen, allen herausragenden Künstlern, Wissenschaftern, Sportlern, Unternehmern gibt es einen Konflikt, der die besondere Energie gibt und in Positives umgewandelt wird.

“They say best men are molded out of faults,
And, for the most, become much more the better
For being a little bad”
                  (William Shakespeare, „Measure for Measure“, 1604) 

Mit welcher Einstellung und Haltung ich meinen Entwicklungsprozess annehme und gestalte, bestimmt grundlegend das Ergebnis. Wer den ersten Schritt zur Therapie macht, bekundet ihren Willen und ihr Interesse, Verantwortung für sich zu übernehmen. Lernen und Erkenntnis sind in der Position des Opfers nicht möglich, da ja die ganze Verantwortung bei den Eltern, Umständen, sozialer Herkunft etc. liegt. Der Schritt in die Therapie ist ein mutiges Zeichen für und zu sich selbst. Es ist ein Schritt auf dem Weg durch Schmerz und Selbstmitleid hindurch zu neuer Verantwortung und aktiver Annahme und Auseinandersetzung. 

“There are really only two ways to approach life – as victim or as gallant fighter – and you must decide if you want to act or react, deal your own cards or play with a stacked deck. And if you don’t decide which way to play with life, it always plays with you.”
                   (Merle Shain, Autorin Kanada)

Der Mehrheit der Menschen reicht es in einem für sie passenden, nicht zu breiten und nicht zu aufregenden „Toleranzkorridor“ der möglichst angenehmen Erfahrungen zu leben. Sie brauchen die verbotene oder geheime Türe des Märchens nicht aufsperren. Dahinter lauern meist etwas Gefährliches, etwas Beängstigendes und auf jeden Fall etwas Neues und Entwicklung und Veränderung Anstoßendes. …wie das Einlassen auf den oft beschwerlichen aber lohnenden Weg der Psychotherapie.

Sei es, dass der mutige erste Schritt schicksalshaft von außen kommt oder sei es, dass die eigene Neugier und der eigene Mut das Abenteuer der Therapie in Gang bringen, lohnend und erkenntnisreich wird es sein. Gottfried von Strassburg beschreibt in seiner Einleitung zu „Tristan und Isolde“, um welche Art von Tiefe und Erfahrung es geht – in seinem Fall die wahre Liebe:

Der Welt, die meinem Sinn gefällt:
Nicht mein’ ich aller Andern Welt,
Die Welt, von der ich höre sagen,
Dass sie kein Mühsal möge tragen
Und nur in Freuden wolle schweben;
Die lass auch Gott in Freuden leben!

Der Welt und solchem Leben
Scheint mein Gedicht uneben.
Solch Leben ist nicht meine Welt,
Eine andre Welt mir wohlgefällt:
Die zusammen hegt in Einer Brust
Das süße Leid, die bittere Lust,
Das Herzensglück, die bange Noth,
Das selge Leben, leiden Tod,
Den selgen Tod, das leide Leben,
Dem Leben hab ich meins ergeben,
Der Welt will ich ein Weltkind sein,
Mit ihr verderben und gedeihen.

Im tiefen, intensiven Erleben der Gefühle können wir spüren, wie die (vermeintlichen) Gegensätze eines Konflikts einer Gefühlspolarität (Leid-Lust, Herzensglück-Not, Leben-Tod) in ihrem Ursprung zusammenfallen bzw. wie sie aufgelöst werden:

  • Wie eben in der Sehnsucht einer unerfüllbaren Liebe wie bei Tristan und Isolde. Im gleichzeitigen schmerzlichen Wahrnehmen, dass die Liebe nicht realisierbar ist, wird die Liebe am stärksten gespürt – so stark dass Leben und Tod ihre Bedeutung verlieren.
  • Oder im Moment der Geburt beschreiben viele Mütter einen solchen Moment der Transzendenz. Trotz der extrem schmerzhaften Wehen wird der Geburtsvorgang auch als Erlebnis einer besonderen Glückseligkeit beschrieben.
  • Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, die schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich hat, verstehen wir den Tod als eine Erlösung. Neben der Trauer spüren wir auch Freude, dass das Leiden ein Ende hat.

Die intensive Erfahrung des Lebens im Hier und Jetzt und eine ganzheitliche Erfahrung von Identität seiner selbst und seiner Verbundenheit mit der Welt würde ich neben seelischen Gleichgewicht und Zufriedenheit als das Lohnenswertes der Psychotherapie beschreiben. Ein gewisser Schmerz, Gefühle von Schuld, Scham, Trauer, Verzweiflung, Aggression sind und bleiben dabei ebenso Bestandteil von uns und unserem Lebensweg wie Freude, Erfüllung, Lebenslust, Mut, Dankbarkeit und Zufriedenheit. 

Der Film „The Revenant“ mit Leonardo di Caprio ist ein vielschichtiges und beeindruckend inszeniertes Testimonial, wie viel Schmerz der Einzelne aber auch eine ganze Kultur aushalten kann, was jemanden kämpfen lässt und wie man seinen Frieden finden kann. „As long as you can still grab a breath, you fight.
You breathe, keep breathing!“

Der Fim Trainspotting schildert sehr intensiv und plakativ die Dynamik zwischen unerfüllbaren Anspruch ans Leben, Flucht in die Drogen und den Weg über Frustration zu Akzeptanz. Mit all seiner Ambivalenz ist das zusammengefasst im Abschlussmonolog des Haupcharacter Renton (Ewan McGregor) „Choose life!“

Musikalisch und in einem eindrücklichen Musikvideo mit viel Symbolgehalt stellt mein Lieblingsmusiker Peter Gabriel den Therapieprozess im Song „Digging in the Dirt“ dar. "Digging in the dirt
. Stay with me, I need support. 
I'm digging in the dirt
. To find the places I got hurt. 
Open up the places I got hurt."