Wie
Wirkprozess Kreativ gestalten und verarbeiten
„Kreativ verarbeiten“ ist ein weiterer Fixstarter im Psychotherapie Bullshit Bingo. Auf „Jungianisch“ würde man sagen, dass der Klient zu starr und einseitig mit einem Pol im Konflikt identifiziert ist. Im Gegenpol des zugrundeliegenden Archetyps staut sich Energie auf und ist gebunden. In der kreativen Bearbeitung und Auseinandersetzung soll eine Verbindung, ein vereinigendes Drittes aufgebaut werden, wodurch Ausgleich und neue Sichtweisen möglich werden. Ah interessant, alles klar … oder auch nicht.
Was sage ich in welcher Lautstärke, Wortwahl, in welchem Ton mit welcher Aussprache. Welches Hemd/Shirt, Hose ziehe ich an, welche Frisur, Haarfarbe trage ich. Wie bewege ich mich, verhalte ich mich etc. So wie man nicht nicht kommunizieren kann, kann man auch nicht nicht schöpferisch sein. Grundsätzlich ist kreativ/schöpferisch sein eine Realisierung von Möglichkeiten, sei es beim Malen auf einer Leinwand oder Schreiben eines emails. In meiner mir zur Verfügung stehenden Freiheit stelle ich mein Inneres so spezifisch nach außen und erschaffe meinen individuellen Ausdruck und so auch ein individuelles Ich.
Aber nicht nur ein Ausdruck ist ein schöpferischer Akt, ebenso ist auch ein Eindruck ein kreativer Akt, wie auch die Neurowissenschaften bestätigen. Das Erfassen eines Inhalts, eines Bildes, eines Liedes, eines Geruches etc. erfolgt automatisch mit Anreicherungen, Streichungen, Kategorisierungen, Wertungen, die sich aus der Einzigartigkeit des Individuums ergeben. Robert Anton Wilson, ein sehr cooler und toll querdenkender Universalgelehrter, spricht in diesem Zusammenhang von einem „individuellen Realitätstunnel“, vgl. sein sehr empfehlenswertes Buch, Quantum Psychology.
Geformt wird dieser Realitätstunnel durch die Abstammung, Vererbung, Prägung, Erziehung und durch Lernen. Letzteres ist das einzige individuell Beeinflussbare, hat aber auf die Gestaltung des Realitätstunnels den geringsten Einfluss. Um das Wort Realitätstunnel etwas verständlicher zu machen: es geht darum wie sehe ich, verstehe ich die Dinge und mich. So will ich sein, reagieren, dafür/dagegen stehe ich. Begriffe, die das Selbe/Ähnliches meinen aber aus anderen Kontexten daherkommen sind z.B. Bubble, Komplexlandschaft, Identität, Psyche, Ideologie, Lebensskript, Launen, Separate Selfs, Subpersonalities.
Wie unterschiedlich, veränderbar und kontextabhängig der kreative Ausdruck und Eindruck sein kann, weiß jeder, der schon mal einen Schwipps, Rausch, Drogenerfahrung gehabt hat. Gut dokumentiert sind unterschiedliche Realitätstunnel bei unterschiedlichen psychischen (Persönlichkeits-)Störungen/Akzentuierungen wie zum Beispiel:
- Manisch-depressiv: Das Erleben liegt bei den Extremen Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt.
- Emotional instabil (Borderline): Spaltendes entweder/oder, schwarz/weiß Wahrnehmen, ohne Beständigkeit und Halt, im Inneren mit starkem emotionalen Überschuss und hoher Impulsivität
- Dissozial: die Umwelt wird als feindselig, ablehnend, provokant wahrgenommen
- Narzisstisch: Was die Grandiosität nährt wird reingelassen, was die Minderwertigkeit anspricht wird abgelehnt.
Wie aus meiner Argumentationslinie erkennbar sein möge, gilt es zu verstehen und erspüren, dass mir nicht die Welt an sich ablehnend, sinnlos, gemein, beschämend, überfordernd etc. gegenübersteht, sondern dass mein Realitätstunnel gewisse starre, konflikthafte, dysfunktionale, einseitige Wahrnehmungen und Handlungen (Eindrücke und Ausdrücke) erzeugt. Dieses tiefgründig zu verstehen, ermöglicht folgende grundlegende Erkenntnisse:
- Die Welt und die Menschen muss (und kann) ich nicht ändern, damit es mir besser geht.
- Mich bzw. meinen Realitätstunnel will und kann ich verändern.
Statt Wahrnehmungen und Interpretationen in starre „das ist so“ und „entweder oder“ Positionen zu subsumieren, gilt es auch ein „vielleicht“ und Differenzierungen und Schattierungen zu entwickeln. In den Worten des alten Meisters C.G. Jung klingt das so:
“Die Wirkung auf die ich hinziele, ist die Hervorbringung eines Zustandes, in welchem mein Patient anfängt, mit seinem Wesen zu experimentieren, wo nichts mehr für immer gegeben und hoffnungslos versteinert ist, eines Zustandes der Flüssigkeit, der Veränderung und des Werdens.“
Das Maß an Kreativität entspricht dem Potenzial, die im Zitat angesprochene Flüssigkeit, Veränderung und das Werden zu bewirken.Und das ist wiederum eine Ableitung dessen, wie viel Neues, Unbewusstes, Innovatives, Unkonventionelles, Veränderliches, Mutiges, Spontanes, Originelles, Befreiendes kann ich zulassen und verarbeiten.
Nachstehend sind die wesentlichsten Methoden der in der jungianischen Therapie verwendeten kreativen Verarbeitung bzw. Symbolsprache kurz beschrieben.
Kreativ gestalten und verarbeiten
Sprache der Symbole
Unsere Sprache bestimmt grundlegend, wie und was wir denken. Zum Beispiel vermittelt das Wort „Sein“ in all seinen Formen eine Grundsätzlichkeit und eine Permanenz, die dem Leben und der Veränderlichkeit und Entwicklungsfähigkeit der Psyche (i.e. Realitätstunnels) nicht entspricht. Um negative Glaubensgrundsätze und Selbstbewertungen auch ihrem Gefühlswert nach aufzulösen, erscheint es Jungianern notwendig auch in der Sprache auf eine Ebene der Gestaltbarkeit zu kommen.
Auf eine Ebene auf der Worte, Dinge, Erlebnisse, Musik, Bilder mehr Sinn und Bedeutung bekommen als der Begriff oder das Ding an sich haben. Z.B. hat ein Jesuskreuz mehr Bedeutung als „ein Stück Holz mit einer aufgenangelten Figur“ und ein Song kann mehr bedeuten als „eine gefällige Abfolge von Tönen“. Über die kreative Auseinandersetzung im Dialog mit dem Therapeuten, in der Besprechung von Träumen und Fantasien, beim Schreiben, Malen und Gestalten werden zusätzlich zur eigentlichen Bedeutung Beziehungen zu unbewussten Inhalten und Gefühlen entwickelt, erkennbar und spürbar. So kommt man von einer Position von „Das ist so!“ zu „Ah, schau dir das an, das wirkt ja so und so auf mich, das ist für mich so und so spürbar.“
In der Therapie sprechen wir über ein „Symbol“ (i.e. Gefühlsträger), über das eine Bewusstmachung, eine Bedeutungs– und Perspektivenveränderung, eine gefühlswerte Gestaltung möglich werden. In der Auseinandersetzung mit einem Symbol werden die eingangs angesprochenen archetypischen Kräfte hin zu Verbindung, Ausgleich und seelischen Gleichgewicht motiviert.
Anbei ein paar Beispiele für Symbole (wobei schlichtweg alles die Funktion und den Wert eines Symbols annehmen kann):
- Ganz grundlegende, kollektive bedeutungsvolle Symbole wie der Kreis/Ring, das Kreuz, der Baum, die Schlange, die Krone, das Schwert, die Sonne, das Meer…
- Begriffe mit symbolischen Bedeutungsüberschuss: „Rosebud“ in Orson Welles Film „Citizen Kane“, Gott, Sozialist, Kapitalist, Klimakrise, Pandemie,…
- Gemälde egal ob konkret oder abstrakt bei denen es der Künstler schafft, dem Betrachter zu ermöglichen seine eigene Geschichte und eigenen Gefühle zu sehen, zu erleben.
- (Helden-)Figuren aus Mythologie, Literatur, Film und Leben: Jesus, Buddha, Maria, Odysseus, Aphrodite, Neo, Luke Skywalker, Greta Thunberg
- Musikstücke, Lieder die einen ein Leben lang begleiten und je nach Lebensphase neue Facetten und Bedeutung bekommen. Bei mir waren das z.B. San Jacinto von Peter Gabriel, Numb von Pink Floyd, Where the Streets have no name von U2 und einige mehr.
Beim kreativ gestalten und bearbeiten werden Symbole geschaffen. In der Therapie werden in der Auseinandersetzung mit diesen Werken und über das symbolisch bedeutungsvolle Sprechen und Verstehen Erkenntnisse und Veränderungen möglich, die bei einem Verharren im starren Bedeutungsrahmen versteckt und stecken blieben.
Kreativ gestalten und verarbeiten
Schauspiel & Imagination
Da kommen wir nun zu einem wirklichen Lieblingsthema von mir. In meiner Zeit als Langzeitstudent war ich Teil eines recht wilden Schauspielensembles. Das Erforschen, Kreieren und Erleben von Gefühlen zur Erfüllung der Vorgaben einer Rolle und Szene waren für mich eine aus sich heraus motivierende und extrem lehrreiche Erfahrung.
Was bedeutet Schauspiel wirklich
Für mich ist Schauspielen kein „Tun als ob“ sondern das möglichst authentische Erleben und Darstellen einer Emotion. Mittels unterschiedlicher Methoden (daher Englisch „method acting“) werden durch das sinnliche Wiedererleben von Situationen, Erlebnissen, Beziehungen, Bildern etc. Emotionen im Hier und Jetzt, auf der Bühne oder vor der Kamera tatsächlich erlebt.
Aus einem Zustand des möglichst kongruenten Zusammentreffens von Gefühl und Ausdruck von innen und außen (Englisch „Being“), entsteht ein wirkliches, eigentliches, ehrliches Selbst, das den Zuschauer einfängt und glaubhaft wirkt. Stimme, Bewegung und Ausdruck wirken kongruent und authentisch, sie stimmen überein. Man sieht das Gegenteil davon oft im heimischen Fernsehen und Theater, dass eine einstudierte, geführte oder manierierte Bewegung der Stimme oder dem Gefühlsausdruck vorausgeht oder dass der Gefühlsausdruck aufgesetzt wirkt. Es wirkt nicht stimmig, ehrlich, authentisch, der Schauspieler ist nicht im „Being“. In der Therapie spricht man ähnlich von „bei sich sein“.
Durch langjähriges, diszipliniertes Training, sprich die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst, mit Gefühlen, Blockaden, Ängsten verfügt ein guter Schauspieler über ein weites Repertoire an emotionalen Gegebenheiten. Sprich, er hat Prozesse zur Disposition, die ihn beim jeweiligen Erleben in einen gewissen emotionalen Bereich bringen. Das Erleben an sich wird aber stets neu und abhängig von Ablenkungen, Kontext, Tagesverfassung anders erlebt. Man kann sagen der Schauspieler spielt auf einer Klaviatur der Gefühle. Er kann seine Emotionen managen, er weiß gut, worauf er wie reagiert.
„An acting problem is a life problem“, schreibt Eric Morris ein in Hollywood hoch anerkannter Schauspiellehrer. Kommt ein Schauspieler nicht zu einem bestimmten Gefühl, Gefühlston oder einer Gefühlsstärke liegt die Ursache in der persönlichen Lebensgeschichte. Um in diesem Bereich Zugang, Freiheit und Ausdruck zu finden, gilt es sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Ganz ähnlich ist es in der Psychotherapie.
C.G. Jung spricht von der „Persona“, i.e. der lateinische Ausdruck für die Maske die sich ein Schauspieler im alten Rom für das Erfüllen einer Rolle vor das Gesicht hielt. Die „Persona“ ist der gemäß bestimmter gesellschaftlicher Anforderungen und Erwartungen angepasste Ausdruck der Persönlichkeit, sozusagen die gesellschaftliche Rolle oder Rollen die man „spielt“. Eine reife Persönlichkeit schafft es je nach Kontext und Anforderung eine gewisse Persona anzulegen bzw. abzustreifen. …ähnlich wie ein Schauspieler. Um das zu bewerkstelligen bedarf es aber auch eines stabilen sich seiner selbst bewussten Ichs als Ausgangspunkt (vgl. Identität).
Zwei Extrempositionen mit ihren jeweiligen störenden Folgen können in Bezug auf „Persona“ beobachtet werden:
Einerseits das vollständige Aufgehen in einer Rolle. Ein Freund von mir war während seiner Studienzeit von einem sich sehr aristokratisch darstellenden Steuerberater als Vorbild ganz eingenommen. Bis zum heutigen Tag läuft er nunmehr selbst permanent wie ein spleeniger Graf herum. Oft sind es auch Rollen mit einer gewissen Machtstellung die jemand auf Kosten der eigenen Persönlichkeit vollkommen absorbieren, z.B. die Kapos in den KZs wurden so beschrieben. Man spürt im Kontakt mit solchen „Rollen“ den eigentlichen Menschen nicht mehr.
Am Gegenpol liegt die Einstellung „ich verstelle mich nicht, Ihr müsst mich nehmen, wie ich bin“. Die Authentizität, sich selbst treu sein, werden wie eine edle Tugend über alles gestellt. Die einzige Rolle die gespielt wird heißt „ich“. Ein Einordnen in eine Unternehmenskultur, ein Ausrichten an Anforderungen, Zielen und Werten diverser Kollektive ist mit so einer Haltung schwierig bis unmöglich.
Die Dynamik ist also eine zwischen Individualität und Anpassung, zwischen freiem Ausdruck und Zusammenreißen. Gleichwohl beide Seiten notwendig und zu kultivieren sind, mangelt es aber meistens an Freiheit, Selbstvertrauen, Mut zum eigenen und freien Ausdruck. Und was wäre passender als sich über Schauspielübungen den Zugang und den Ausdruck von Gefühlen (wieder) zu erschließen.
In der Therapie erfolgt das einerseits über aktive Imagination, sprich das Ausfantasieren von alternativen Verhaltensmustern, veränderten Umweltbedingungen, neuen positiven Glaubensgrundsätzen. Parallel dazu werden achtsam Veränderungen der Gefühle beobachtet und besprochen. Ebenso können über instrumentelle Schauspielübungen (sprich Körper und Gefühle betreffend = Instrument des Schauspielers) Veränderungsimpulse eingebracht werden. Z.B. kann es befreiend sein für jemanden, der sehr verschämt und schüchtern ist, sich in einer Übung je nach Bedarf vulgär, erotisch, sinnlich, asozial, grauslich etc. zu geben und solche Dinge zu tun. Auch dafür bietet der therapeutische Raum eine sichere und freie Umgebung.
Wie schwer gewisse Übungen fallen können, aber auch welche Befreiung sie bewirken können, ist mir in einer Episode aus unserem Ensemble erinnerlich. Eine in gewissen Bereichen sehr angepasste Kollegin sollte möglichst vulgär, grauslich und gemein sein und die Kollegen dabei direkt ansprechen und persönlich treffen. Sie stampfte leicht auf den Boden, fing immer wieder an mit „Du bist…“ aber es kam nichts. Dann wurde sie ganz rot, nahm noch einen Anlauf und brachte ein leises „Du bist so dumm“ heraus. Das war das Ärgste, Grauslichste und Gemeinste, das sie sich erlaubte. Nach mehreren Interventionen brach aber 20 Minuten später unter Tränen und Schreien ein Schwall mit Handlungen heraus, die ich nicht auf diese Seite schreiben will. Die Befreiung war nachhaltig und der Zugang und Umgang mit diesen Gefühlen führten in unterschiedlichen Lebensbereichen zu positiven Veränderungen.
Über das Schauen passender Filme, über die Auseinandersetzung vielleicht auch Aneignung bestimmter Rollen oder kurzer Szenen können wertvolle Impulse im Unbewussten gesetzt und Gefühle belebt werden. Angestrebt wird dabei eine Haltung und ein Umgang mit Emotionen ähnlich einem Schauspieler. Nicht das unbewusste Komplexgeschehen bestimmt meine Gefühlslagen und Reaktionen, sondern es gibt eine bewusste Instanz, die Gefühle wahrnimmt und den Ausdruck der Situation und Bedürfnislage (wie ein Schauspieler an die emotionale Anforderung einer Szene bzw. Rolle) anpasst.
Ich denke, wenn von Lebenskunst gesprochen wird, meint es genau, dieses „Spielen“ zu beherrschen. Das Leben als ein kunstvolles Spiel zu begreifen, beschreibt Joseph Campbell in seinem tollen und so empfehlenswerten Buch „Myths to live by“ folgendermaßen:
„And so finally, now, this attitude toward art as an aspect of the game of life, and life itself as the art of a game, is a wonderfully joyous, invigorating approach to the mixed blessing of existence.“
Kreativ gestalten und verarbeiten
Musik
„We learned more from a three-minute record, baby
Than we ever learned in school.“
Bruce Springsteen, No Surrender
So wie das Leben/Zufall/Schicksal/Universum einem die Freunde, (Lebensabschnitts-)Partner „bringt“, die einem bei den anstehenden Lernstufen helfen, so verhält es sich auch mit der Musik. Man könnte sagen, das Unbewusste sucht aus, es schafft die Bereitschaft. Das was einem gerade gefällt, passt irgendwie zur Zeit, zur Stimmung. Das oben beschriebene „ergriffen sein“ von Kunst ist im Fall von Musik körperlich und emotional besonders intensiv spürbar.
Es liegt ja dann nahe, sich ausgehend von der Musik zu erschließen, was das Unbewusste da an das Bewusstsein herantragen will. Nicht selten passiert es, dass man in der Früh mit einer Melodie oder Textzeile aus einem Lied aufwacht, das man schon lange nicht mehr gehört hat. Ähnlich wie ein Traumbild gedeutet wird, können auch Lied und Text symbolisch verstanden werden. Genau das macht die Qualität eines guten Liedes aus, man kann es mit seiner individuellen Geschichte und Gefühlen verbinden und verstehen.
In meiner Arbeit als Sozialpädagoge habe ich ein tolles Beispiel erlebt, dass es nicht notwendig ist, den Text zu verstehen, um eine Verbindung herzustellen. Ein Jugendlicher, der wegen seiner langjährigen Schulverweigerung kein Englisch sprach, hatte ein eindeutiges Lieblingslied. Für die heutige Geschmackswelt eher ungewöhnlich war es von Johnny Cash mit düsterer Musik und schwerem Text. Und ohne, dass der Jugendliche ein Wort verstanden hätte, war es symbolisch eine genaue Beschreibung seiner schwierigen Lebensgeschichte. Das oftmalige Hören und später auch die Besprechung waren sein selbstgesteuerter Verarbeitungsprozess.
Nicht zufällig beschreibt man den emotionalen Zustand mit einem Begriff aus der Musik, eben als „Stimmung“. Wie sehr sich die Stimmung durch Musik beeinflussen lässt hat wahrscheinlich schon jeder erfahren. Insofern lässt sich Musik therapeutisch nicht nur für die symbolische Deutung verwenden sondern auch zur Verarbeitung (vgl. „Betrauern“ unten) oder zur Vorbereitung (vg. Integrieren unten).
Aus eigener Erfahrung kann ich beispielhaft erzählen, dass ich mich auf meinem eigenen Individuationsweg so um die 35 als nicht beziehungsfähig gegenüber Frauen gefühlt habe. Austin Powers hätte gesagt: „I lost my mojo“. Ich habe intuitiv gespürt, dass die Lösung für mich im Song „Secret World“ von Peter Gabriel und in der Lektüre von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust lag. Für ca. 6 Monate habe ich mir fast jeden Tag vor dem Einschlafen das Lied angehört und die überlangen Sätze von Proust auf Französisch gelesen. Dann habe ich meine jetzige Frau kennengelernt.
Aber auch im Verarbeiten von traurigen und traumatischen Erlebnissen können viele Menschen über Lieder, Musikstücke berichten, die ihnen eine hilfreiche Stütze waren. Das beiderseitige Einbringen von Musik in den therapeutischen Prozess erachte ich als sehr wertvoll, ermöglicht es eben auch eine Verarbeitung und Vorbereitung zwischen den Therapiestunden.
Kreativ gestalten und verarbeiten
Malen, Formen, Sandspiel
Etwas in Worte zu fassen, etwas auszudrücken, kann jemanden aus unterschiedlichen Gründen schwer bis unmöglich fallen. Eine Erfahrung, ein Gedanke oder eine Fantasie können zu scham- oder schuldbesetzt sein oder können eine traumatische Qualität haben, dass über sie nicht offen gesprochen werden kann. Bzw. sind Inhalte so verdrängt, dass sie bewusst nicht gewusst werden. Hier hilft es eine Sprache in Form des künstlerischen Ausdrucks zu finden, um sich so einem Gefühlskomplex anzunähern.
In der kreativen Auseinandersetzung des Malens, Formens und Sandspielens kommen spontane, kreative Ideen und Impulse aus dem Unbewussten ans Bewusstsein wie „ich will diese Farbe; ich wähle diese Form; ich mache diesen Strich; ich streiche diese Fläche so;“ usw. Aus dem „Dialog“ zwischen den unbewussten Impulsen und den bewussten Auswahlentscheidungen, was tatsächlich umgesetzt wird, entsteht das individuelle, persönliche Bild.
Heilend und erleichternd wirkt dabei schon der Prozess des kreativen Ausdrückens. Es kommt dabei im wahrsten Sinn des Wortes etwas heraus. Im analytischen Lingo könnte man sagen, es werden neue Verbindungen geschaffen, es werden unbewusste Inhalte näher an bzw. in den Bewusstseinsbereich gebracht und können so in einem Prozess verarbeitet und integriert werden.
Der Akt des kreativen Arbeitens ist an sich therapeutisch wirksam wie wissenschaftliche Evidenz vielfach bestätigt. Eine weitere Verarbeitung und ein tieferes Verstehen können über die Prozesse des Assoziierens und Interpretierens erreicht werden. Im Sinne der symbolischen Sprache werden die einzelnen Teile sowie das Kunstwerk als Ganzes über freies Assozieren mit Gefühlen und Bedeutung angereichert. Aus der Summe von Deutungsaspekten, entsteht in der Gesamtschau ein in Bezug auf die eigene psychische Situation schlüssiger Ausdruck sowie ein tiefergehendes Erkennen und Verstehen.
In meiner therapeutischen Arbeit animiere ich meine Klienten sich künstlerisch auszuprobieren und auszudrücken. Sich von Erwartungs- und Leistungsdruck zu befreien und sich selbst anzuvertrauen, sich zutrauen ist schon mal ein wesentliches Statement zu sich selbst. In meiner Praxis stehen vielfältige kreative Ausdrucksmittel zur Verfügung wie: Stifte, unterschiedliche Malfarben, Papier in vielen Größen, ein großes Whiteboard, ein Sandspielkasten mit einer Sammlung von Figuren, Ton zum Formen und Einiges mehr.
Kreativ gestalten und verarbeiten
Humor
Die Psychotherapie und besonders die Psychoanalyse haben den Ruf, dass „tief gegraben“ werden muss, dass man dorthin gehen möge, wo es weh tut, dass man betrauern muss. „You can only heal what you can feel.“ Ja, stimmt schon, ein Sachverhalt soll in seiner kognitiven und emotionalen Dimension „verstanden“ und verarbeitet werden.
Gleichwohl kann man dem „Dunklen, Schweren“ auch etwas „Helles und Leichtes“ gegenüberstellen.
„Der Mensch ist ein Vieh, das lacht.“ („Homo animalium unus titilletur, et cutis tenuitas est, et quod solus omnium animalium rideat.“ Aristoteles, De partibus animalium. Übersetzung Gerhard Polt)
Also, schon in der Antike wurde das Lachen als eine spezifisch menschliche Fähigkeit und Eigenschaft erkannt. Und ich habe in meinem Leben bis heute noch keinen Menschen getroffen, der nicht gerne gelacht hat.
Im Lachen und Humor (nicht im Zynismus oder Verlachen, die vielmehr eigene Scham, Verachtung, Depression darstellen!!!) liegen einerseits das Erkennen und das Annehmen des Lebens wie es ist (gerade auch mit seinen Schmerzen und Mühsal) und gleichzeitig liegt im Lachen der Ausdruck von Leichtigkeit und Distanziertheit. Meine Schwiegermutter im Burgenland fasst es mit einem Schmunzeln und den naturweisen Sprüchen „Es is wie’s is“, oder „Es kummt wie’s kummt“, zusammen. Wer das gefühlt integriert hat und über die Verwerfungen, Herausforderungen und Kuriositäten des Lebens schmunzeln kann, hat ihre Meisterschaft des Lebens erreicht.
„Lachen ist die beste Medizin“, weiß der Volksmund. Der Duden beschreibt „Humor“ als: „Die Fähigkeit und Bereitschaft auf bestimmte Dinge heiter und gelassen zu reagieren.“ Unter den psychologischen Abwehrmechanismen wie Projektion, Verdrängung, Intellektualisierung usw. gilt Humor als die reifste Form der Abwehr. Sprich, etwas nicht so an sich heranlassen, etwas auf Distanz halten können. Lachen und Leichtigkeit als Lebenseinstellung können aktiviert, (wieder) gelernt und geübt werden.
Sigmund Freud hat dem Thema Witz/Humor ein knapp 300 Seiten dickes Buch gewidmet. Und mittlerweile gibt es Humor als Wissenschaft, i.e. die Gelotologie; klingt irgendwie auch schon witzig. Aber wie der Wiener sagt: „Schmäh kannst dir net kaufen“. Es ist mehr ein Zulassen, Entstehen, und Kultivieren. Der Humor hat etwas Ursprüngliches, Kindisches, Freies, Mutiges und vor allem auch etwas Verbindendes – zwischen Menschen und auch zwischen Unbewusstem und Bewusstem.
Der Humor besteht aus zwei Seiten: Einerseits, einen Scherz machen. Andererseits, etwas lustig finden und lustig nehmen können. Sich trauen spontan, narrisch, unpassend, übertrieben, unerwartet, enthemmt, chaotisch, blöd, frech, direkt, wahrhaftig etc. zu sein, ist auch ein Beziehungsangebot. Steigt der Andere auf meinen Schmäh ein, kommen wir auf eine Wellenlänge? Flirten, Daten, sich kennen lernen, sich annähern, passiert großteils dadurch, herauszufinden, was den Anderen amüsiert. Wie wichtig Humor für das Selbstbild ist, zeigt der Funfact, dass bei einer groß angelegten Umfrage 70% der Befragten ihren Humor als überdurchschnittlich und nur 5% als unterdurchschnittlich bewertet haben. Das geht sich in wirklich also nicht ganz aus.
Wie kann man Humor in den Therapieprozess integrieren? Das Teuferl, der Schalk, der Schelm, der Trickster verstecken sich stets gleich hinter dem zu Schwerem, Eintönigen und Ernsten. Wir lassen sie einfach raus, vielleicht suchen wir sie auch, geben ihnen bewusst Stimme und pflegen sie sogar (siehe Schauspiel, Imagination). In der Therapie dürfen und sollen wir kreativ witzig, einfach nur blöd, verrückt, unkonventionell, kindisch usw. sein. So lernen wir auch die Schwächen, Fehler, Imperfektionen, Ärgernissen etc. in uns und in der Welt als gegeben und bestenfalls als lustig und wertvoll zu akzeptieren. Und so kommen wir unserer eigenen Individualität und unserem inneren und äußeren Strahlen näher.
Kreativ gestalten und verarbeiten
Träume
Sehr, sehr großes Thema, wo fange ich an. Am besten am Anfang…
C.G. Jung und Sigmund Freud gelten als DIE Pioniere der therapeutischen Arbeit mit Träumen. Während Freud das Unbewusste und Trauminhalte rein als vom Bewusstsein in Unbewusste verdrängte, tabuisierte Inhalte verstand, spricht Jung dem Unbewussten eine selbständigere, primäre Rolle zu.
Ja, es gibt verdrängte persönliche Inhalte aber die zumindest genauso wesentlichen Impulse für das Individuum kommen aus den Archetypen, den grundlegenden Bausteinen/Kräften/Energien des von Jung so bezeichneten kollektiven Unbewussten. Das allen Menschen gemeinsame kollektive Unbewusste bildet die Basis, die Voraussetzung (vgl. Betriebssystem) aller seelischen Vorgänge jedes Menschen.
In der Auseinandersetzung des Bewusstseins mit diesen Kräften entsteht lebenslange seelische Entwicklung, entsteht der eigene Lebensweg, i.e. Individuation. Das kollektive Unbewusste beim Menschen ist analog zu verstehen, zu dem Wissen das z.B. eine Spinne hat, ein Netz zu bauen; oder ein Vogel ein Nest; oder dass eine Hundemutter weiß nach der Geburt, die Fruchtblase abzulecken und die Nabelschnur durchzubeißen. Begriffe, die diese Energien/Bausteine/Kräfte aus einem anderen Bedeutungskontext versuchen zu erfassen, sind z.B. Mutter-/Vaterinstinkt, Selbstverwirklichungsdrang, Flucht/Kampf Verhalten, Selbsterhaltungstrieb, Mensch als Beziehungswesen etc.
Der Wachzustand, das Tagesbewusstsein ist im Gegenteil zum Traumzustand/Traumbewusstsein dadurch bestimmt, dass es eine logische und erfahrbare Trennung zwischen dem Individuum und der Welt, zwischen Subjekt (Erfahrendes) und Objekt (Erfahrbares) gibt. Also ein „Innen“ und „Außen“ sind erfahrbar.
Im Traumzustand sind Subjekt und Objekt identisch, Erfahrender und Erfahrbares sind eine Person, eine Psyche. Also ein „Innen“ kreiert ein „Außen“. Das im Traum Erfahrbare wird aus dem eigenen persönlichen sowie kollektiven Seelengrund angereichert, es ist ein persönliches Produkt.
Das individuelle Sehen, Erleben und Fühlen der Traumbilder ist die symbolische Sprache par excellence. Abgelöst von der Logik und Nüchternheit des Tagesbewusstseins werden im Traum eine individuell entstehungsgeschichtliche, stammesgeschichtliche und universal naturgeschichtliche Erfahrungskomponente in einem gewissen Sinn mystisch geschaffen und erfahrbar. Begriffe, Bilder, Ideen haben so einen symbolischen Bedeutungsüberschuss. Im Verstehen und Verarbeiten dieses Bedeutungüberschusses, der anzeigt, was in der jeweiligen Psyche in Bearbeitung, in Konstellation, zum Übertritt ins Bewusstsein bereit ist, liegt der Wert der Traumbearbeitung.
Mit welchem Traumbild, Lied, Gedanken, mit welcher Idee wache ich auf, das sind die kleinen Hinweise des Unbewussten. Machen Sie sich Notizen, führen Sie ein Traumbuch, beleben Sie den Austausch zwischen Ihrem Traum- und Tagesbewusstsein und Sie werden merken, wie sich Ihr Leben auf unterschiedliche Weise belebt.
Kreativität und Kunst, die wirklich berühren, schaffen im Betrachter eine Verbindung, eine Resonanz zwischen diesen beiden Bewusstseinszuständen. …und überdies ein Verbindung zu dem „Bewusstsein“ des traumlosen Tiefschlafs, des ganz tiefen, dunklen Urgrunds der Seele, der Ewigkeit, des Ursprungs. Wenn diese drei Bewusstseinsebenen durch Kunst gleichzeitig berührt werden, spürt man ein Gefühl der Ergriffenheit, des Verstehens und Erkennens von Sein, Leben und Zusammenhängen. Genau dieses „kunstvolle“ Erleben und Verstehen macht das Faszinierende, Belebende und Bereichernde aus, wenn man sich die Symbolsprache der Träume verständlich macht.
Deshalb ist das kreative/symbolische Bearbeiten so wichtig, um diese Verbindungen in sich und seiner selbst zu schaffen. In einem „vertikalen“ Sinn vom hohen Bewusstsein bis zum tiefen Unbewussten. Und in einem „horizontalen“ Sinn in der Ordnung und Verankerung auf der Zeitachse von der Vergangenheit (Tagesbewusstsein) zur der Gegenwart (Traumbewusstsein) und zur Zukunft (traumloser Tiefschlaf). Ein schönes Beispiel, diese vertikale Ausdehnung des Bewusstseins einerseits und der Zeit, Geschichte andererseits ist von Thomas Mann in der Einleitung zu seinem Werk „Josef und seine Brüder“ verfasst:
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen? Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben dann, wenn nur und allein das Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlich-elendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und das O all unseres Redens und Fragens bildet, allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht. Da denn nun gerade geschieht es, daß, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen.
Kreativ gestalten und verarbeiten
Mythen und Märchen ...und Drogen und Wahn
Für wen Mythos und Märchen zu verstaubt klingen, denen sei gesagt, dass es in der Therapie genau um die Themen und Dynamiken geht, die quasi ursprünglich und in symbolischer Sprache in Mythen und Märchen aufgezeichnet wurden. Die Themen und Dynamiken konstellieren sich aber genauso in Songs, Büchern, Theaterstücken, Mangas, Fantasien, Träumen, Zeichnungen, Tagesgeschehen etc. und können so von unterschiedlichen und individuell passenden Ausgangspunkten und Verständniskontexten angegangen werden.
Da fange ich mal mit „Drogen und Wahn“ an, das weckt eingangs wahrscheinlich mehr Interesse.
Insbesondere im Rausch mit halluzinogenen Drogen ist es gut beobachtbar, wie Bilder des Traumbewusstseins in die Welt des Tagesbewusstseins „herüberschwappen“. Das was das Subjekt (das Innere, die Psyche) produziert, wird in die Objektwelt verlegt, d.h. im Äußeren als real wahrgenommen. So kann es schon mal passieren (wie ein Freund von mir erlebt hat), dass er in der Unterwelt mit Zwergen gesessen ist und vor ihm ein Stairway to Heaven aufgegangen ist, auf dem er in die Höhe spaziert ist. Im Moment des Erlebens war das alles wirklich und echt erfahrbar und im Nachhinein objektiv logisch nicht haltbar. …habe ich gehört.
Ähnliches passiert in psychotischen, wahnhaften Zuständen, wie sie u.a. für die Schizophrenie typisch sind. Inneres Erleben bekommt die Qualität einer äußeren Realität. Und das menschheitsgeschichtlich, psychologisch und therapeutisch Faszinierende ist, dass diese entstehenden Bilder, sei es Drogen oder Wahn, in den allermeisten Fällen klar nachvollziehbaren mythologischen Bildern und Inhalten gleichen. Diese Inhalte und Dynamiken können über Auseinandersetzung mit den entsprechenden Mythen und Märchen bewusst gemacht werden und so können die oftmals aufgrund traumatischer Erlebnisse fragmentierten Bewusstseinsanteile geordnet und zusammengefügt werden.
Soweit mal, um zu zeigen, welche Potenz die Kräfte des Unbewussten haben können und welcher Natur sie grundsätzlich sind. Der Übergang zwischen Realität, Fantasie und Pathologie ist dabei ein fließender wie der folgende Cartoon zeigt.
Ein weitere Beleg für die mächtigen psychischen Wirkkräfte, die ein lebendiger Mythos hat, sind die das eigene Selbst übersteigenden Taten, die Menschen früher wie heute bewerkstelligen, die von einem Mythos/von einer Religion beseelt sind. Die ins Allgemeinwissen übergegangene Bedürfnispyramide von Maslow (körperlich->Sicherheit->sozial->indviduell->Selbstverwirklichung) wird komplett ausgehebelt, um als Kreuzritter das heilige Land zu schützen, um sich für jenseitigen Lohn in die Luft zu sprengen, um als Inder neben einer Kuh zu verhungern, um Kathedralen zu bauen, die ein Land verarmen lassen etc.
Joseph Campell beschreibt Mythen leicht ironisch als „other peoples’ religion“. Es sind emotional gehaltvolle und tief verankerte Geschichten, die Antworten auf die großen Fragen und Bedürfnisse der Menschheit geben. Sie entstammen der unauslotbaren Tiefe/Geschichte des Psychischen (vgl. Thomas Mann oben) und bilden die grundlegenden Themen und Dynamiken der Seele (i.e. Psyche) ab. Sie sind als Symbolsprache in Bildern und Gleichnissen in einem symbolischen, gefühlten, psychischen Sinn zu verstehen. Wer an einer nach einer wissenschaftlich (historisch, geografisch, biologisch etc.) vielfach widerlegten wörtlichen Interpretation der Schriften festhält, wird sich deren Wirkkraft nicht erschließen können.
Joseph Campbell spricht von 4 Funktionen, die ein lebendiger Mythos für Menschen im einzelnen und für eine Gemeinschaft erfüllt. Der Wegfall bzw. die Übertragung dieser Funktionen auf andere Träger (z.B. Politiker, Ideologien, Social Media,…) bleibt für die Psyche nicht ohne Folgen.
1. Die pädagogische Funktion: Ein Mythologie zeigt den Weg und begleitet die Entwicklung von der Geburt bis zum Tod. Gleichzeitig „trägt“ einen die Mythologie und gibt Inspiration für Wachstum und Veränderung. Diese Funktion ist mittlerweile weitgehend staatlichen Pädagogen und eben Psychotherapeuten übertragen.
2. Die soziologische Funktion: Diese Funktion dient der Etablierung, Berechtigung und Einhaltung einer bestimmten gesellschaftlichen und moralischen Ordnung des Zusammenlebens. Diese Funktion wurde mittlerweile weitgehend durch Staat und Gesetz übernommen.
3. Die kosmologische Funktion: Mythologie präsentiert ein Bild des Universums und der kosmischen Ordnung und Beziehungen. Diese Funktion wurde mittlerweile weitestgehend von der Wissenschaft übernommen.
4. Die metaphysische Funktion: Ein Mythos entsteht aus dem Erkenntnis der Sterblichkeit und dem daraus entstehende Impuls diese zu transzendieren. Er erfasst und beschreibt das nicht Erfassbare, Absurde, Bestaunenswerte aber auch das Schreckliche und Brutale unserer Existenz.
Diese 4 Funktionen könnten vereinfacht als 1.Ich 2.Beziehungen 3.Welt und 4.Jenseits, sprich vom Kleinen zum Großen verstanden werden. Das Verstehen von eigenen Leidenszuständen in Analogie zu einem mehrschichtigen, mythologischen Geschehen wirkt für Klienten erleichternd und haltend. So bekommt das eigene Leid doch viel mehr eine Dimension des allgemein menschlichen Seins als die eines individuell belastenden Problems. Darüber hinaus ergeben sich aus der Bearbeitung und dem Verstehen insbesondere auch von Märchen Lösungsideen und Wege aus den zugrundeliegenden Konflikten.
Ein wesentlicher Grund für den starken Anstieg der Zahl an Menschen, die Hilfe bei Psychotherapeuten suchen, ist der immer schneller voranschreitende Wegfall von Halt gebenden Strukturen wie Religionen, Traditionen, Rituale, Rollenbilder etc. Ich bin teilweise auf dem Land aufgewachsen und habe Erntedank, sonntägliche Kirche, Schützenverein, beseeltes Weihnachten, christliche Feiertag die gefeiert wurden etc. noch miterlebt. Obwohl ich mich bei meinen Kindern bemühe ähnlich strukturierende Erfahrungen weiterzugeben, ist nur mehr ein Bruchteil übrig. Die Regeln des Zusammenlebens, die Werte und Wertigkeiten, die Lebensphilosophie, die Ethik, die Moral wurden in der Auseinandersetzung mit den angesprochenen Strukturen erlebt und überliefert. Wenn heutzutage ein Mangel an Halt und Orientierung erlebt wird, sind die Anlaufstelle nicht mehr der Pfarrer, die altersweise Großmutter, der Dorfälteste sondern immer mehr der Psychotherapeut. In der individuellen Therapie geht es dann oft darum einen individuellen Mythos zu entwickeln, nach dem das Leben ausgerichtet wird. C.G. Jung schreibt darüber:
Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.“