Wie

Wirkprozess Abstand gewinnen

Frühstück machen, Kinder in die Schule, Präsentation in der Arbeit, Meeting vorbereiten, zu Hause noch Staub saugen, Fenster putzen, Eltern anrufen, Konto und Zahlungen überprüfen, Arzt Befund besprechen, Bewegung machen, Treffen mit Freunden verschieben… „AAAAAAaaaaahhhhh, wie geht es mir, Hilfe!!!“ …der ganz normale Wahnsinn. Wieder mal nur gebuddelt und nicht weiter- oder gar rausgekommen. Zum Glück gibt es Freunde, die einem mit Ratschlägen „zur Seite stehen“ wie: „Steiger Dich nicht so rein!“ „Nimm es nicht so ernst!“ Oder mein Favorit: „Du musst den gegenwärtigen Moment genießen!“

Urlaubsreif, Abstand gewinnen! Drei Wochen Urlaub sind ideal. 

  1. Woche: zurücklassen, loslassen 
  2. Woche: ankommen, (griechisches) Tempo, Grove aufnehmen 
  3. Woche: genießen, smooth sailing. 

Leider können sich die wenigsten Menschen das finanziell und in der für ein umfassendes Wohlgefühl notwendigen Frequenz leisten. 

Um inneren Abstand zu unangenehmen Gefühlen und Gedanken zu gewinnen, sehe ich eine Psychotherapie gegenüber einem Urlaub als eine langfristigere und stabilere Lösung. In regelmäßigen Intervallen in einen geschützten Raum sich frei und sicher fühlen und ausdrücken können und den Phasen eines Urlaubes folgend: 

  1. Phase: abladen, zurücklassen, loslassen
  2. Phase: zu sich kommen, inneres Tempo und Grove mit außen abstimmen
  3. Phase: neues Gleichgewicht, Leichtigkeit, Selbstvertrauen pflegen

Über sich nachdenken können, sich selbst mit jemand anderen besprechen können, führt schon zu einer Distanzierung. In der Psychologie spricht man von Mentalisierung. Es entsteht so eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt meines Erlebens und meiner Betrachtung. In der Meditation formuliert es sich so:

  • Ich bin nicht mein Körper, ich erkenne meinen Körper.
  • Ich bin nicht meine Gefühle, ich erkenne meine Gefühle.
  • Ich bin nicht meine Gedanken, ich erkenne meine Gedanken.
  • Ich bin nicht meine Ideale und Ziele, ich kenne diese.

Klingt verständlich und inspirierend, aber wie kann ich das erreichen, ohne als Mönch 7 Jahre nach Tibet ziehen zu müssen? Hier bedarf es eines kurzen Einschubs der Psychoedukation, um ein Verbindung zwischen der wissenschaftlichen Basis und dem therapeutischen Handeln zu verdeutlichen.

Die analytische Psychologie nach C.G. Jung wird auch als „Komplexpsychologie“ bezeichnet.„Komplexe“ stellen die in Körper und Gehirn aus wiederholten, emotional einprägsamen (Beziehungs-)Erfahrungen entstandenen Muster der Wahrnehmung und Reaktion dar. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Wer als Kind oft belacht oder beschämt wird, macht Beziehungserfahrungen in der Art: „ich bin nicht wertvoll“, „ich darf mich nicht selbst ausdrücken“. Damit einher gehen starke Gefühle von Scham und Schuld und ein mangelnder, brüchiger Selbstwert. Eine aus diesem Komplex geleitete Handlungsstrategie, um mit dem Gefühl von Scham und Schuld umzugehen, könnten einerseits ein übervorsichtiger Rückzug andererseits ein übersteigertes, rücksichtsloses Geltungsbedürfnis sein.

Jeder Mensch hat Komplexe, so ist auch das Gehirn aufgebaut, wie die Neurowissenschaften bestätigen. Der wesentliche Unterschied in der Erfahrung für sich und in der Beziehung zu Anderen, ist, wie bewusst bin ich mir meiner Komplexe. Hat der Komplex mich (reagiere ich automatisch, reaktiv gemäß dem alten Muster) oder habe ich den Komplex (achtsame Wahrnehmung des Komplexes und Bewahren von Handlungsoptionen). Eine andere Sichtweise: Halte ich das unangenehme Gefühl von z.B. Scham aus und bleibe flexibel oder reagiere ich impulsiv mit Abwehr z.B. aggressive Beschuldigung, gekränkter Rückzug etc. 

Durch das Besprechen des komplexhaften Verhaltens und durch das Reinszenieren und emotionale Verarbeiten im therapeutischen Setting wird ein achtsamerer Umgang mit Komplexen geübt, der die reaktive/unbewusste Komponente der Komplexreaktion reduziert. Dieser Prozess kann idealerweise auch durch eine kontinuierliche Praxis der angesprochenen Achtsamkeitsmeditation unterstütz werden. C.G Jung hat in diesem Zusammenhang von einem Überwachsen der Komplexe bzw. von einem Ablösen von den Komplexen gesprochen.

Über die Arbeit an den Komplexen wird es möglich, unangenehme Gefühle von beschwert, hilflos, feststecken, ausweglos auf Distanz zu bringen. Das Belastende verliert an Gewicht. Man kann wieder anfangen zu agieren statt nur nachzurennen und zu reagieren. Im Nachrennen und Reagieren ist man ein Opfer seiner Umstände. Man empfindet kein stärkendes, bestätigendes Gefühl von Selbstwirksamkeit und Dankbarkeit sondern eher Gefühle von ausgeliefert sein, Verzweiflung und Neid.

In der Opferposition (keiner will mich, ohne Geld geht nix, na mit meiner Familiengeschichte…) sind Lernen und Veränderung nicht möglich. Das gilt dann, wenn man sich als Opfer der Umstände begreift bzw. sich mit negativen eigenen Zuschreibungen oder fremden, entwertenden Projektionen identifiziert. Die Gegenposition zum Opfer ist archetypisch gesprochen der Held bzw. der reife Krieger. Der  steht für das Handeln, das Übernehmen von Verantwortung, das in Therapie gehen, das kreativ verarbeiten.

Insbesondere bei depressiven Verstimmungen ist eine Unterstützung dieses Prozesses mittels Psychopharmaka oft hilfreich. Man verwendet in der Besprechung des Genesungsfortschritts bzw. der Wirkung von Medikamenten auf der Psychiatrie das Bild des „Herausheben“ aus der Depression bzw. der „Distanzierung“ von negativen Gedanken.

Zwei Gedanken noch zum Wirkprozess „Abstand gewinnen“

  1. Anschluss an das kollektive Ganze: Die im individuellen Komplex des Einzelnen konkretisierte Entwicklungsenergie ist archetypischen Ursprungs, das heißt kollektiver allgemeinmenschlicher Natur. Diesen „Anschluss“ des Einzelnen an kollektive Kräfte, die jeden Menschen in Auseinandersetzung bringen, zu erkennen und verstehen, bringt auch oft schon eine Distanzierung, einen Abstand zum Erleben des eigenen normal „Pathologischen“. „Nicht nur ich bin so, nicht nur ich habe das.“
  2. Demütiges Erkennen der individuellen „Wichtigkeit“: Oft wirkt es erleichternd und befreiend, sich bewusst zu machen, dass es knapp 8 Milliarden Menschen auf der Erde gibt. Jeder Mensch bemüht sich, so gut es geht, durchs Leben zu kommen. Jeder hat Sorgen, Ängste, Wünsche, Probleme etc. Und meine Probleme sollen nun so eine besondere Größe haben? Da hilft es oft die Größe des eigenen Bewusstseins gegenüber dem Großen Ganzen demütig anzuerkennen.

Nebenstehendes Video verdeutlicht einerseits das eingebettet sein ins kollektive Große Ganze und andererseits wie klein die Einzelne ist, die wiederum aus unendlichen vielen „Einzelnen“ besteht. Es gibt einerseits ein Gefühl von kollektiver Verbundenheit andererseits von Demut über das kleine „Ich“. …und was ist überhaupt „Ich“.

Der Mensch als Teil des großen Ganzes und selbst als ein großes Ganzes aus Teilen.